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Finanzkrise, Sparzwang und Perspektiven für die Systeme der sozialen Sicherheit in Österreich und Europa


Namhafte ExpertInnen diskutierten im Hauptverband die Auswirkungen der Finanzkrise auf den Sozialstaat

23. Oktober 2013

„Das österreichische Sozialsystem hat die Folgen der Finanzmarktkrise im Vergleich zu Europa zwar sehr gut abgefedert, wir müssen aber dennoch den gut funktionierenden Sozialstaat für die Herausforderungen der Zukunft fit halten“, betonte der Generaldirektor des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger, Dr. Josef Probst. Anlass war die heutige Sozialstaatsenquete zum Thema „Wie verändert die Finanzkrise die Systeme der sozialen Sicherheit in Österreich und in Europa“.
Diese fand bereits zum 7. Mal in Kooperation zwischen dem Hauptverband und dem Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) statt. Namhafte europäische ExpertInnen diskutierten dabei die direkten und indirekten Auswirkungen der Finanzkrise auf die Systeme der sozialen Sicherung und Ansatzpunkte zur Verbesserung der sozialen Sicherheit im Nachkrisen-Europa.

Der stellvertretende Leiter des WIFO, Dr. Peter Huber, unterstrich dabei die Wichtigkeit des intensiven Meinungsaustauschs zwischen Wissenschaft und Forschung und dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger als Dachorganisation der gesamten Sozialversicherung. „In der gegenwärtigen Auseinandersetzung um sozialstaatliche Reformen muss auch die Produktivkraft der Sozialversicherung gestärkt werden“, so Dr. Huber.

Beginnend mit der Status-quo Analyse zum Zustand und zur Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme seit Krisenbeginn stellte Prof. Dr. Werner Sesselmeier, Leiter des Instituts für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Koblenz-Landau fest: „Es kann nicht sein, dass die Bürgerinnen und Bürger in Europa weniger wichtig sind als die Banken“. Er konstatiert, dass kein Land in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion für sich alleine leben oder sterben kann. Da in Europa die sozialen Sicherungssysteme den Arbeitsmärkten nachgelagert sind, haben die länderspezifischen Krisenfolgen am Arbeitsmarkt unmittelbare Auswirkungen auf die Sozialsysteme: Hohe Arbeitslosigkeit führe zu einer hohen Beanspruchung des Wohlfahrtsstaates. Sesselmeier: „Gerade im Bereich der Arbeitsmarktpolitik - als verbliebener nationaler Anpassungsmechanismus auf die Krise - können EU-Staaten mit starker Krisenbetroffenheit nur mit Offenheit für Veränderung zur wirtschaftlichen Prosperität zurückfinden. Aber nicht nur die Effizienz von Reformen, sondern auch Gerechtigkeit, wie diese von der Bevölkerung wahrgenommen wird, sind wichtig für deren Umsetzung.“

Prof.in Dr. Brigitte Unger, Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Zentrums in Düsseldorf (WSI), erläuterte die positiven Effekte eines sozialen Europas nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch für die Unternehmen. So zeigt sich bei der Bewältigung der Finanzmarktkrise die generelle Krisenfestigkeit von Ländern mit starken Sozialstandards und Sozialsystemen. Um die langfristige Prosperität in Europa wieder zu erreichen, braucht es jedenfalls eine Balance zwischen Wettbewerb und Kooperation. Diese Neuausrichtung Europas erfordert einerseits einen neue EU-Architektur, von den europäischen Institutionen bis hin zur einer Neudefinition der Grundrechte für Europäische BürgerInnen. Andererseits braucht es Mindeststandards auf EU-Ebene etwa beim Arbeitslosengeld oder Pensionen. Diese Mindeststandards würden den Wettbewerb innerhalb der EU in sozial und ökonomisch vernünftigen Bandbreiten begrenzen und Sozialdumping vermeiden. Unger: „Der Sozialstaat ins finanzierbar, es ist Geld vorhanden, wir müssen es uns nur holen.“ Unger bezifferte das Ausmaß der Steuerhinterziehung in Europa mit 3-15 Prozent des Europäischen Bruttoinlandsprodukts, und die Geldwäsche in Europa mit jährlich rund 1.000 Mrd. Euro. Eine europaweite Finanztransaktionssteuer würde bis zum Jahr 2020 Staatseinnahmen in Höhe von € 20-50 Milliarden bedeuten.

Der Leiter des Zentrums für Sozialpolitik an der Universität Bremen, Prof. Herbert Obinger, unterstrich die krisendämpfende Wirkung des österreichischen Sozialstaates. Auch Prof. Obinger hält eine Neujustierung der europäischen Wohlfahrtsstaaten für notwendig. Die wissenbasierte Gesellschaft braucht gänzlich neue Sicherungssysteme. Dem steht die geringe Durchlässigkeit des Bildungssystems aber entgegen. Prof. Obinger sieht Bildungsinvestitionen als zentralen Faktor präventiver Sozialpolitik in der Ökonomie des 21. Jahrhunderts. Aber auch soziale Investitionen sind wichtig, denn sie vermeiden Kinderarmut, verbessern die Durchlässigkeit des Bildungssystems und erhöhen das Angebot sozialer Dienstleistungen bis hin zur Stärkung von Grundsicherungselementen.

Die Sozialversicherung garantiert unabhängig von Alter, Einkommen, sozialer Herkunft und Bildung hochwertige Gesundheitsversorgung und eine sichere Pensionsvorsorge. Aktuell sind rund 8,4 Millionen Menschen anspruchsberechtigt (Versicherte und mitversicherte Angehörige). Der Behandlungsanspruch aus der Krankenversicherung wird beim Mediziner durch das e-card-System angezeigt: Die e-card als Schlüsselkarte enthält keine medizinischen Daten, ermöglicht dem/der Arzt/ Ärztin aber die Überprüfung des Versicherungsstatus eines Patienten und die Nutzung weiterer Services. Der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger ist das organisatorische Dach über der solidarischen Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung Österreichs.


Zuletzt aktualisiert am 11. März 2015